„Jeder Tag fühlt sich wie Montag an“
Im Fünf-Wochen-Takt verbindet die „Atlantic Sea“ Frachthäfen in Europa und Amerika miteinander. Von Weihnachtsfeiern, Karaokeabenden und anderen Manövern auf See.
Das schwierigste Manöver auf der Brücke der „Atlantic Sea“ ist an diesem Vormittag der Versuch, der Kaffeemaschine Cappuccino zu entlocken. „Es wird doch erst richtig spannend, wenn´s kompliziert wird“, meint Kapitän Piotr Kaminski, während zweiter Offizier Francisco Penita mit Schläuchen, Wasserbehälter und Kaffeebohnen hantiert. Man ist mitten auf dem Atlantik; Liverpool liegt seit drei Tagen irgendwo hinter dem Horizont. Seitdem nichts als die weite blaue See, selten mal Gegenverkehr. Ruhe. Ein willkommener Ausgleich für die vergangenen Tage, die beherrscht waren von Überstunden, Einfahrten in die Häfen von Hamburg, Antwerpen und Liverpool, an denen es galt, hunderte von Containern von Bord zu schaffen und neue aufzunehmen. An denen man sich mit einer Menge Leute im Hafen absprechen musste, und an denen es zuguterletzt galt, ebendiese Häfen auch sicher wieder zu verlassen. Hamburg, Antwerpen und Liverpool, in der Reihenfolge.
Geschafft. Europa ist abgefertigt. Da ist dann auch mal Zeit, eine viertel Stunde mit der Kaffeemaschine zu verbringen. Das Ergebnis lässt sich sehen. „Wie bei Starbucks!“ Der Offizier strahlt.
In vier Tagen nun wird man Halifax, Kanada, erreichen. Die „Atlantic Sea“ ist eines von fünf Schiffen der Reederei Grimaldi. Sie bringen Fracht vom alten Kontinent nach Nordamerika – und wieder zurück. Immer im Kreis. Seit über 50 Jahren. Dabei nehmen sie neben Containern auch Fahrzeuge auf, die über eine Rampe auf verschiedene Decks rollen können. Wie im Parkhaus sieht es im Bauch des Schiffes aus, nur dass hier neben normalen Autos wie Minis und Land Rovern unter anderem auch Landmaschinen von John Deere, Wohnmobile oder Baumaschinen parken. Blättert man in einem Bildband der Reederei, staunt man, was ebenfalls schon seinen Weg über den Atlantik gefunden hat: Rotorblätter für Windmühlen, Flugzeugteile, historische Straßenbahnen. Sogar die Giraffen eines Zirkus waren in den 70er Jahren dabei. Wie gut, dass die Zwischendecks höhenverstellbar sind.
Ein paar Tage zuvor. Es ist 17 Uhr 30. Abendbrotzeit. Das Schiff liegt in Hamburg. Der Geruch von gebratenem Speck und Fischsuppe zieht durch die Messe, wie die Kantine auf Schiffen genannt wird. Vom Vegetarismus, der an Land mitunter herrscht, weiß man hier, eine Handbreit vom Kai entfernt, nichts. Hier kommen Fleisch und Fisch auf die vier Tische – zwei Mal am Tag.
Durch die offene Küchentür dudelt Radiomusik – Time of my life. Der Koch singt mit, vermutlich trainiert er für den Karaokeabend. Drei Männer mit karamellbraunem Teint kommen herein, lachen und rufen etwas auf philippinisch in die Küche. Es heißt so viel wie: „So, Leute macht´s gut. Auf Wiedersehen!“ Alvin, der Steward, kommt aus der Küche. Er klopft den Männern auf die Schulter. Sie waren nun für neun Monate an Bord. Jetzt werden sie für zwei Monate nach Hause fliegen, zurück zu ihren Familien.
Der Rest der Mannschaft findet sich ein. In Trainingshose und T-Shirt schlappen die Matrosen, Offiziere und der Kapitän, oder auch Master, wie er hier genannt wird, an die Tische. Wer fertig ist, steht auf und geht. Kurz nach 18 Uhr liegt der Raum da wie leer gefischt. Wo sind denn alle? Vermutlich im Stress? „Oder im Internet“, sagt Steward Alvin und aus seinem Dauerlächeln wird ein herzhaftes Lachen. Die Zeit in den Häfen will gut genutzt sein. Nur in der Nähe der Küste haben die Seemänner guten Empfang, nur dann können sie mit ihrer Familie telefonieren. Ersteinmal auf hoher See haben sie dazu kaum Gelegenheit.
Zwei Tage später liegt das Schiff im Hafen von Antwerpen. Unten am Kai stehen wie im Fuhrpark eines Autoverleihers unzählige Neuwagen und Kleintransporter, die darauf warten, verladen zu werden. Drumherum stapeln sich wie Duplosteine die Container. Stück für Stück haben LKWs sie herangekarrt, nun hieven sie hochhaushohe Kräne im Minutentakt auf die Frachter. Alleine die „Atlantic Sea“ fasst bis zu 3.850 von ihnen. Die Brücke ist jetzt unbemannt. Jetzt wird nicht navigiert, jetzt wird organisiert und überwacht. „Es ist wichtig, dass überall das Schwerste ganz unten platziert wird“, erklärt der Master. Manche Container bräuchten zudem Stromanschlüsse, da ihr Inhalt gekühlt oder geheizt werden müsse – medizinische Geräte etwa. „Außerdem gibt es Container, die aus Sicherheitsgründen nicht direkt nebeneinander stehen dürfen, weil sie beide gefährliche Fracht enthalten“, erklärt Kaminski. Dazu gehöre sogar Parfum, das sei leicht brennbar. Und auf noch etwas müssen die Seemänner achten: auf blinde Passagiere. In Zeiten grassierender Flüchtlingsströme treiben sie auch die Schiffahrt um. Deswegen steht an jedem Hafen ein Wachmann an der Rampe der Frachter und Nahaufnahmen von Schiffen und Laderäumen sind streng untersagt. Ersteinmal veröffentlicht würden sie Schlepperbanden Einblick in die Gegebenheiten gewähren.
12 Uhr mittags. Der Frachter hat die belgische Küste hinter sich gelassen. „Hmm, Eiscreme! Es muss Sonntag sein!“, sagt der Kapitän als er den Nachtisch erblickt, den es eben nur Sonntags gibt. Er grinst und reibt sich die Hände. „Man kann an Bord schon mal vergessen, welcher Wochentag ist, jeder Tag fühlt sich an wie Montag“, sagt Alvin. Wochenenden kennt man hier nicht. Auch der Kapitän nicht. Der nimmt, nachdem er sein Cordon bleu verzehrt hat, das Eis, verlässt den Raum und folgt dem blauen Linoleum durch die Gänge, die nach Essen, Duschgel und gewaschener Wäsche riechen. Bis er wieder auf der Brücke steht. Seit fast zwölf Stunden ist er nun schon auf den Beinen, um ein Uhr nachts, also eine Stunde vor Abfahrt aus Antwerpen, ist er aufgestanden. Er sagt: „Es ist kein Bürojob. Wie ein Arzt im Krankenhaus kannst Du nicht einfach so nach acht Stunden gehen. Was Du angefangen hast, musst Du zu Ende bringen.“ In einer Stunde will er sich aufs Ohr legen.
Jetzt geht es noch nicht, weil die Stelle, die der Frachter gerade passiert, seine Aufmerksamkeit erfordert: Es ist eng hier im Ärmelkanal und es gibt viel Verkehr. Gleich fünf Fähren auf einmal sind unterwegs, die Dover und Calais miteinander verbinden, dabei von links oder rechts die Route der „Atlantic Sea“ queren werden.
Die Regeln seien die gleichen wie im Straßenverkehr, erklärt der Master: Es gelte rechts vor links. Und es könne das gleiche passieren, wie im Straßenverkehr. „Dass Dir irgendwer reinfährt, weil er Dir die Vorfahrt nimmt.“ Dabei bleibt es ruhig auf der Brücke, die Schiffe funken sich nicht gegenseitig an. Sie beobachten sich nur mithilfe des Radars und des Fernglases. „Es würde nur Missverständnisse geben, wenn wir miteinander sprächen“, meint der Master. „Das Englisch der Seemänner ist unterschiedlich, mal gut, mal schlecht. Auf den Meeren sind alle Nationen unterwegs und nicht immer halten sie sich an die Regeln.“ Er schüttelt den Kopf.
Doch auch diesmal geht alles gut. Wer sich zwei Tage später über die Reling beugt, schaut auf dunkelrote Backsteinhäuser, Kräne und ein riesiges Containerschiff, größer noch als das eigene. Möwen kreischen. Die „Atlantic Sea“ ist in Liverpool angekommen. An diesen Hafen allerdings hat einer der Matrosen nicht so gute Erinnerungen. „Es war vor etwa 15 Jahren, da liefen wir hier ein, als uns ein anderes Schiff darauf aufmerksam machte, dass bei uns vorne am Wulst des Bugs ein toter Wal steckt. Seine Stimme wird leise. „Das war traurig.“ Gut sechseinhalb Tonnen habe das Tier gewogen. „War wohl so 20 Meter lang“, erinnert sich der Seemann. Das ist die dunkle Seite der Schiffahrt. Immer wieder kommt es zu solchen Unfällen. Seit dem Jahr 1950 hat die gemeinnützige Organisation"Whale and Dolphin Conservation" rund 1.200 Vorfälle dokumentiert, wobei sie die Dunkelziffer weit höher schätzt – Tendenz steigend.
Derweil ist die Stimmung in der Messe besser, Steward Alvin war am Abend im hiesigen Seemannsclub. „Es hat gutgetan, für ein paar Stunden mal andere Gesichter zu sehen“, sagt er und lacht – auch wenn er leichte Kopfschmerzen hat. Wie immer ist der 36-Jährige zum Plaudern aufgelegt und er weiß viele Geschichten zu erzählen vom Leben auf den Meeren, das er auf verschiedenen Schiffen verbracht hat. Bereits neun Weihnachten und neun Silvester hat er nicht mehr zu Hause in Manila gefeiert, so lange ist er schon dabei. Vor dem letzten Heiligabend hatte der schiffseigene Kran, der sonst das Proviant für die Besatzung an Bord hievt, einen Weihnachtsbaum am Haken. „Den haben wir alle gemeinsam geschmückt“, erzählt Alvin. Zu essen gab es Spanferkel und Torte, zum Nachtisch Karaoke. Nur Bier und Wein stand nicht auf den Tischen – Alkohol ist an Bord strikt verboten, darüber wacht der Master.
Eigentlich sollte Alvin selbst als Kapitän zur See fahren, den Abschluss dafür hat er in der Tasche. „Allerdings habe ich in meinem Land keine Stelle bekommen, sieben Jahre lang habe ich mich beworben“, sagt der Seemann. So habe er als Barkeeper und Kellner an Land gearbeitet, bis er seinen ersten Job als Tellerwäscher auf einem Schiff antrat. Seitdem verdient er drei Mal so viel wie in der Heimat. Das Geld investiert er in den Tante-Emma-Laden seiner Frau und einen kleinen Teil davon in Aktien. „Vom Tellerwäscher zum Millionär, das wär´ was!“ Alvin lacht sein herzliches Lachen. „Eines Tages arbeite ich nicht mehr auf einem Schiff. Dann gehört mir eines.“
Interessant zu wissen:
- Eine Tour der „Atlantic Sea“ dauert etwa fünf Wochen. Das Schiff verbindet die Frachthäfen Hamburg, Antwerpen, Liverpool, Halifax, New York, Baltimore und Portsmouth miteinander.
- Die Crew besteht aus 22 Besatzungsmitgliedern: 17 Philippinos, 3 Russen, einem Bulgaren und dem polnischen Kapitän.
- Insgesamt durchfährt das Schiff fünf Zeitzonen: Auf dem Weg nach Amerika gewinnt die Besatzung Zeit dazu, auf dem Rückweg verliert sie diese wieder.
- Die Schiffsbrücke ist rund um die Uhr im Vier-Stunden-Schicht-Betrieb besetzt. Jeweils ein Offizier und ein Matrose sind im Dienst. Der Kapitän ist immer dann auf der Brücke, wenn es nötig ist. Er kennt keine Überstunden. Zusätzlich gibt es den so genannten Dead-Man-Alarm: Nimmt ein Sensor zwölf Minuten lang keine Bewegung auf der Brücke wahr, löst er Alarm aus.
- Der Schiffsmotor (30.000 Pferdestärken oder auch so stark wie 150 VW Camper) bringt es auf eine maximale Geschwindigkeit von 18 Knoten, das entspricht 35 Kilometern pro Stunde. Auf einer Fahrt von Hamburg und zurück verbraucht er rund 1,5 Millionen Liter Treibstoff.
- Die „Atlantic Sea“ ist keine drei Jahre alt und entspricht laut Kapitän Piotr Kaminski den gängigen Standards: Der Ausstoß von CO2 und Schwefeloxid geht demnach gegen Null, da diese Schadstoffe zuvor herausgefiltert werden.
- Die Mannschaft verfügt über eine Entsalzungsanlage, mit der sie Meereswasser zu Frischwasser aufbereitet – etwa zum Kochen oder Duschen. Nur zum Trinken hievt der schiffseigene Kran einmal im Monat drei Paletten Mineralwasser an Bord. Die Abwässer, auch die aus den Toiletten, werden mithilfe von Bakterien behandelt sowie gefiltert und in angemessenem Abstand zur Küste ins Meer gespült.
- In ihrer Freizeit stehen der Crew eine Sauna und ein Fitnessraum zur Verfügung.
Uta Nabert